Ich habe mit der Berliner Journalistin und Autorin Anja Schreiber gesprochen, die mit ihrem aktuellen Buch einen Wegweiser zum Journaling geschrieben hat. Nach dem Gespräch schreibe ich nun selbst wieder täglich und systematisch Tagebuch. Manche Begegnungen haben eben Folgen…
Schreiben gehört für viele Introvertierte zu den leisen Stärken. Über das Journaling kann es der Weg zu einer Schatzkammer werden.
SL: Die meisten Menschen sind gerade mit existenziellen oder sehr praktischen Fragen beschäftigt: „Wie kann ich mit Kindern zu Hause arbeiten? Behalte ich meinen Arbeitsplatz?“ Ist es in Corona-Zeiten hilfreich, ein Tagebuch zu schreiben?
AS: Sicher haben jetzt viele Menschen existenzielle Fragen und Sorgen. Viele sprechen mit ihren Partnern oder Freundinnen drüber, aber nur wenige schreiben auf, was sie gerade denken und fühlen. Doch so wichtig es auch ist, sich auszusprechen … es bringt nicht immer weiter. Gerade Intros wissen das. Sie neigen ohnehin dazu, bestimmte Dinge lieber mit sich selbst abzumachen.
Das Tagebuchschreiben ist ein wunderbares Tool, um Gedanken und Gefühle frei in Worte zu fassen. Dadurch wird vieles klarer. Im Prozess des Schreibens gewinne ich Abstand zu meinen Sorgen, Problemen und Ängsten. Sind diese erst einmal niedergeschrieben, lassen sie sich leichter analysieren. Denn sie sind nun nicht mehr nur im Kopf, sondern auch auf dem Papier oder auf dem Bildschirm. Das ist sehr erleichternd. Dann sollte der nächste Schritt folgen: Die Suche nach einer Lösung. Viele kennen das von der Projektplanung im beruflichen Alltag: Sie basiert immer auf Textdokumenten. Das Gleiche macht auch bei der persönlichen Lebensplanung Sinn.
SL: Ist das Tagebuchschreiben eher etwas für Introvertierte?
AS: Ich bin überzeugt, dass das Journaling bei Intros und Extros gleichermaßen positive Wirkungen hat, aber natürlich kommt das Tagebuchschreiben Intros sehr entgegen. Ihnen fällt es wahrscheinlich leichter, sich zu disziplinieren und regelmäßig über sich zu schreiben. Allerdings besteht dieser Vorteil – so glaube ich – nur in der Anfangsphase, wenn es noch keine Schreibroutine gibt. Sobald das Journaling Teil des Alltags geworden ist, wird es den wenigsten noch schwerfallen. Dann ist es zur guten Gewohnheit geworden und funktioniert automatisch. Natürlich ist jeder im Vorteil, der gern über sich nachdenkt und selbstreflektiert durchs Leben geht.
SL: Sie raten dazu, die eigene Lebensvision schriftlich in Worte zu fassen. Warum?
AS: Es gibt Untersuchungen darüber, dass Menschen aufgeschriebene Ziele eher verwirklichen als Ziele, die sie nur im Kopf haben. Eigentlich kennt das jeder aus seinem Alltag: Wir schreiben To-do-Listen und Einkaufszettel. Das ist auch bei der Lebensvision so. Dazu kommt, dass viele meist nur eine vage Vorstellung von ihrer Zukunft haben. Aber je klarer die eigene Lebensvision ist, desto einfacher ist es, den Weg dahin zu planen. Deshalb ist es sinnvoll, in sich zu gehen und sich genau auszumalen, wie man leben möchte – und das dann detailliert schriftlich festzuhalten. In einem Workshop in Berlin fand eine meiner Teilnehmerinnen heraus, dass sie mit Kindern arbeiten will, ihr Studienfach das aber gar nicht vorsieht. Das Niederschreiben der eigenen Lebensvision führt in solchen Fällen zu sehr spannenden Erkenntnissen. Und genau darum geht es: mich selbst zu durchschauen!
SL: Meine Lebensvision zu formulieren: Wie schaffe ich das?
AS: Am besten stellen Sie sich ganz konkrete Fragen: An welchem Ort will ich leben? In der Großstadt oder auf dem Land? Wie wünsche ich mir Beziehungen? Was und wie will ich arbeiten? Stellen Sie sich diese Fragen und schreiben Sie Ihre Antworten auf.
Viele haben zurzeit existenzielle Sorgen, aber wenig Handlungsspielräume, weil zum Beispiel ihre Branche stark von der Pandemie betroffen ist. Gerade jetzt ist es heilsam, die konkreten Sorgen zwischendurch in den Hintergrund treten zu lassen und sich die eigene Wunschzukunft auszumalen. Vielleicht will jemand, der bei einer Fluglinie arbeitet, sich schon lange verändern, weil ihn das viele Reisen auf Dauer auslaugt und er Familie und Beruf nicht unter einen Hut bekommt. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, sich sehr konkret vorzustellen: Wie könnte wie ein anderes Leben aussehen?
SL: Hat das Tagebuchschreiben auch Folgen für das praktische Leben?
AS: Ich glaube, dass Selbstreflexion immer Auswirkungen auf das reale Leben hat. Reflektierend sehen wir die Welt anders – und können dann auch auf anderen Wegen weitergehen. Vielleicht entwickeln wir Ideen, die unser Leben entscheidend verändern.
Das geschieht natürlich nicht von heute auf morgen. Es braucht Zeit und Ausdauer. Außerdem ändert sich bereits am ersten Tag etwas Entscheidendes: Wer ein Journal schreibt, nimmt sich Zeit für sich selbst. Das ist wichtig, denn so entstehen neue Prioritäten. Es ist eine Auszeit, eine kleine Reise zu uns selbst, für die niemand die Wohnung verlassen muss.
SL: Was sind die Voraussetzungen dafür?
AS: Voraussetzungen fürs Journaling gibt es keine, außer vielleicht das Interesse an sich selbst.
SL: Was würden Sie Menschen raten, die mit dem Tagebuchschreiben loslegen wollen?
AS: Einfach anfangen, aber damit rechnen, dass sich die gute Gewohnheit nicht automatisch einstellt. Deshalb empfehle ich Geduld. Es braucht nicht viel Zeit … jeden Tag ein paar Minuten. Dazu braucht immer wieder einen kleinen Willensimpuls. Sehen Sie das Journaling als Training an, das Ihre Fähigkeit stärkt, Ideen zu entwickeln, Pläne zu schmieden und umzusetzen und dadurch zufriedener zu werden.
SL: Sie sagen, dass es wichtig ist, nicht nur zu schreiben, sondern auch das Geschriebene zu reflektieren. Wie geht das?
AS: Durch Lesen! Es macht Sinn, sich zusätzlich zur eigentlichen Schreibroutine in größeren Abständen mit dem eigenen Journal zu befassen und die vergangenen Einträge durchzulesen. Das Monats- und Quartalsende bietet sich dafür genauso an wie das Halbjahres- oder Jahresende. In dieser Zeit kann ich mein Journal unter einer ganz konkreten Fragestellung betrachten: Bin ich meinen Zielen nähergekommen? Wie steht es mit meinen Beziehungen, meiner Familie, meinem Freundeskreis, meiner Gesundheit, meinen Finanzen, meiner Freizeit … und natürlich meinem Beruf?
Während dieser Lektüre machen Sie sich am besten Notizen. Zuerst können Sie ein paar Stichworte aufschreiben. Im Anschluss kann dann einen Überblickeintrag entstehen, der eine Vogelperspektive auf Ihre Reflexionen einnimmt. Das ist eine wunderbare Methode, mit sich im Gespräch zu bleiben und sich selbst bei dem Entwickeln von Zielen und ihrer Umsetzung zu begleiten.
Lesetipp:
Anja Schreiber: Entfessle Dein Selbst durch Journaling: Mit dem Tagebuch Träume verwirklichen, Ziele umsetzen, Erfolge wahrnehmen und das Selbstbewusstsein stärken … auch in der Corona-Krise, Berlin 2020
Der Blog von Anja Schreiber: https://blog.anjaschreiber.de
Dies ist sicher nicht nur in Zeiten von Corona einer der hilfreichsten Ansätze, sich selbst aus Dauerschleifen zu befreien und auf eine kreative Spur zu bringen und diese dann auch einigermaßen konsequent zu entwickeln. Frau Schreiber zeigt einen bestechend einfachen, aber enorm durchdachten und vor allem leicht zu realisierenden Weg zu neuen Freiräumen im eigenen Selbst auf. Vor allem hilft dieser Weg auch dabei, ständigen Ablenkungen und Umwegen ohne Schuldgefühle quasi freundschaftlich auf die Schliche kommen und selbst Abhilfe schaffen zu lernen, ohne erheblichen Aufwand treiben zu müssen. Letztlich ist es eine Art achtsamer „Hygiene“ für das eigene Tun, die Frau Schreiber mit ihrem Buch erklärt und uns damit die Tür weit aufstößt zu freier und entschlossener Zeit- und Zukunftplanung. Für uns Frauen ist mit diesem Ansatz wirklich sehr viel Unterstützung geleistet. vielen Dank für diesen Beitrag!