Heute schreibe ich über einen besonderen Menschen in meinem Leben:
über Herrn Sohn. (Ich nenne ihn auf Twitter so und bleibe hier dabei!)
Herr Sohn (10) also hatte heute einen frustrierten Verzweiflungausbruch.
Was war passiert?
Eigentlich sollte es ein schönes Wochenende werden. Ein fröhliches Frühlingswochenende in einer Jugendherberge mit 14 anderen Kindern aus einer internationalen evangelischen Kirchengemeinde, die ich wegen ihrer Weltoffenheit sehr schätze. Genügend erwachsene Betreuer, die wir kennen.
Herr Sohn aber ist diese Zeit schlecht bekommen. Richtig schlecht. Der Grund:
Alles wurde gemeinsam getan! Gruppentreffen und Sport, Musik und Essen, sogar Wandern:
Alles, alles passierte gemeinsam in der Gruppe. Schlafen im Sechsbettzimmer. Rückzugsmöglichkeit: null.
Ich weiß natürlich, dass Herr Sohn ein leiser Mensch ist. Dass er zwischendurch allein Zeit zum Denken und Luftholen braucht. Deshalb hatte er von mir einen Rat im Reisegepäck: Wenn es dir zuviel wird, hast du das Recht, dich auszuklinken. Jederzeit.
Genau das hatte er sogar vorher klargestellt – und während des Wochenendes auch zweimal versucht. Das Ergebnis: friendly fire. Will heißen: Beide Male überredete ihn eine erwachsene Betreuungsperson freundlich, doch lieber wieder zur Gruppe zurückzukehren. Was kann ein leiser Zehnjähriger dem entgegensetzen?
Wozu ich das schreibe: Leise Menschen brauchen Rückzugsnischen!
Eben weil sie leise sind, machen sie sich und anderen das oft nicht deutlich.
Dabei hat ein Rückzugsbedürfnis nichts mit sozialer Kompetenz oder Leistungsfähigkeit zu tun: Es ist einfach ein persönliches Merkmal wie Bewegungsdrang oder die Lust an Diskussionen. Wer das respektiert, sichert sich die Freude am sozialen Leben und auch die Fähigkeit, optimal zu denken und zu arbeiten.
Wenn Sie zu den leisen Menschen gehören, dann gönnen Sie sich deshalb Ruhephasen im Alltag:
ein Mittagessen allein, ein kleiner Spaziergang zwischendurch, ein paar Seiten aus einem Buch (oder Blog).
Das wirkt Wunder: für Sie selbst und auch für Ihre Beziehungen zu anderen.
Herr Sohn leidet nach diesem Wochenende unter einer akuten Kirchenallergie. Das verstehe ich gut. Und ich werde zweierlei tun.
Erstens: ein entsprechendes Feedback geben.
Zweitens: mit Herrn Sohn Grenzen setzen üben: Er darf sich zurückziehen.
Auch unter „friendly fire“ wohlmeinender Menschen, die es eigentlich besser wissen sollten.
ps: Herr Sohn hat diesen Beitrag freigegeben.
Wie wahr. Und wie eindrucksvoll beschrieben.
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich übrigens zum Schluss: auch laute Menschen brauchen Rückzugsnischen. Möglicherweise sogar dringender als die leisen. Nur wissen sie’s noch nicht. Und deshalb verstehen sie dieses Bedürfnis der leisen Menschen nicht oder kaum.
Die Frage ist also eigentlich: wie bringen wir mehr laute Menschen zu dieser Einsicht? Ich weiß es nicht. Der obige Blogbeitrag könnte aber ein Wegweiser sein.
Herzliche Grüße
Leo Faltin
Ich glaube, da ist etwas dran: Auch „lautere“, also extrovertierte Menschen profitieren von Ruhezonen. Allerdings sind sie nicht so existentiell darauf angewiesen wie die leisen Menschen:
Denn leise Menschen brauchen die Rückzugsphasen, um ihre Batterien wieder aufzuladen. Extrovertierte Menschen können dagegen ihre Batterien gut im Kontakt mit anderen aufladen. Deshalb geht mein Mann nach einem anstrengenden Tag z.B. gern zu einem Clubabend, und ich vertiefe mich schweigend in ein Buch…
Ich verstehe das zu gut . Mir geht es oft auch so, ich genieße meine freie Zeit in der Woche, während mein Mann arbeiten ist und Bubele im Kindergarten. Ich mochte es früher auch nicht auf Klassenfahrten etc zu fahren, weil man nie alleine war. Man hatte keine wirkliche Zeit/ Zone für sich selbst. Irgendwann wird man nur noch müde und gestresst.
Auch bei Francis merke ich das es ihm gut tut mal paar Minuten zu entspannen , oder mal alleine seine Bücher durchzuschauen oder Lego zu bauen.
Schade nur dass es oft nicht akzeptiert wird, wenn man Stop sagt…
liebe grüsse 😉
Ich hatte im Konfirmandenunterricht einen Jungen, der ist bei den Freizeiten zweimal abgehauen und hat sich im Zimmer unter seinem Bett verkrochen. Erst da habe ich herausbekommen, dass er die Rückzugsmöglichkeit braucht.
Danke! Ein entspannender Beitrag, der mich auch noch inspiriert hat (siehe http://judith-rachel.de – „Rückzugsnischen in der Ganztagsschule“)
Was bedeuten die Überlegungen über Rückzugsnischen für unser öffentliches Leben? Für Schulen und Betriebe? Für unser eigenes Tun?
Herr Sohn hat das Glück, dass er die Unterstützung bekommt schon recht früh seine Grenzen kennen und setzen zu lernen. Ich wünsche ihm viel Erfolg dabei!
Wichtiger Beitrag, der mir aus der Seele spricht. Mein Leben spielt sich häufig zwischen zwei Extremen ab: Entweder sehr konzentriert viele Menschen um mich (wenn ich in meinem Job unterwegs bin) oder absolut allein daheim. Da ich als Kind schon zwischen diesen beiden Welten – viele Menschen und nur ich allein – hin und her geswitscht bin, hab ich auch früh gelernt, dass es für meine seelische und körperliche Gesundheit absolut unabdingbar ist, diese Klausurzeiten für mich zu haben.
Möchte dazu noch ein paar Gedanken oder auch Fragestellungen anfügen:
* Jeder Mensch braucht beides. Kontakte und Fürsichsein. Es gibt mit Sicherheit eine Bandbreite der Ausprägung, doch Fakt ist, dass beides für uns Menschen notwendig ist.
* „Laute Menschen“ oder vielleicht auch sehr beschäftigte, hyperaktive, gestresste Menschen sind oft nicht in der Lage Stille und Mit-sich-sein auszuhalten. Da ihnen in der normalen Alltagswelt keine Zeit bleibt sich selbst denken zu hören, zu reflektieren, strömt alles auf einmal auf sie ein und das halten manche überhaupt nicht aus. Ihre Lösung besteht dann darin, sich wieder sofort in Aktiviäten mit anderen zu stürzen.
* Kinder sind oft in ein wahres Freizeit-Beschäftigungs-Programm eingebunden, kombiniert mit einer Medienübermacht. Das führt dazu, dass es kaum noch Leerzeiten gibt, Zeiten in denen Langeweile aufkommen kann und in denen Kinder wahrhaft mit sich allein sind. Doch Langeweile ist oft ein viel zu sehr unterschätzter wichtiger Antrieb für Kreativität. Eigene Kreativität. Die aus dem einzelnen selbst herauskommt und dazu animiert, sich interessanten Ideen aus dem eigenen Inneren zuzuwenden.
* Und als letzten Gedanken, etwas, das mir in meiner Arbeit auffällt: Ich sehe viele, viele Büros in meinem Job und in den letzten 15 Jahren meiner Selbständigkeit sind mir immer wieder ähnliche Situationen untergekommen. Um die Quintessenz vorwegzunehmen: Ein Großraumbüro treibt die Menschen die dort arbeiten müssen in den Wahnsinn. Das ist jetzt sehr plakativ ausgedrückt und trifft für mich doch den Kern.
Einer ständigen Lärmbelastung ausgesetzt zu sein, sich immer unter Beobachtung zu fühlen, jederzeit störbar zu sein ist etwas, dass die Menschen auf Dauer krank werden lässt. Nicht umsonst gibt es in Firmen wie google & Co. Rückzugsräume, Stilleräume, Kreativitätsräume, Einzelbüros auf Zeit usw. In manchen Firmen konnte ich vor einer geplanten Umbaumaßnahme noch das Schlimmste verhindern und den Verantwortlichen aufzeigen, dass fehlende Rückzugsmöglichkeiten signifikant die Leistung der MitarbeiterInnen verringert und deren Gesundheitszustand auf Dauer verschlechtert. Es lohnt sich immer darüber nachzudenken, wie Menschen in einem guten, lebensnahen Rhythmus arbeiten und leben können und dabei gehören Rückzugsräume auf jeden Fall mit dazu.
Liebe Sylvia, du schreibst: „Auch “lautere”, also extrovertierte Menschen profitieren von Ruhezonen. Allerdings sind sie nicht so existentiell darauf angewiesen wie die leisen Menschen.“ Doch. Das sind sie auch. Ich bin eher einer der Lauteren, muss es vielleicht auch sein. Ich rede und schreibe und schreibe und rede und will überzeugen…. Aber Ruhephasen, Ruhezonen brauche ich wie die Luft zum Atmen.
Abends in einer kleinen Kapelle, allein mit Stille und Licht – dann spüre ich Energie, die sonst nie zu spüren ist. Charisma des Ortes. Das gibt es.
Am Meer, abseits vom Trubel. Nur das Rauschen der Wellen hören. Sich dem Rhythmus angleichen. Nichts mehr denken. Nur hören.
Im Meer. Wegschwimmen vom Strand. (Ab-)Tauchen. Die Sorgen des Alltags an der Oberfläche lassen.
Ein Buch lesen – d.h.: in eine andere Welt eintauchen. Ohne Filmmusik, die mich zu Stimmungen zwingt, die ich vielleicht gar nicht mag. Ohne rasante Schnitte, die mich aufputschen. Ohne dümmlich Dialoge, die mich reizen. Nein: einfach nur lesen. Als Kind verkroch ich mich beim Lesen oft in stille Ecken, wo mich keiner sehen konnte. Ich war dann so in mein Buch versunken, dass ich die Rufe meiner Mutter gar nicht mehr hörte. Aufgefallen bin ich, wenn ich beim Lesen lachen musste 😉
Still werden. Abschalten. Ruhe finden.
All dies ist Balsam für die Seele.
Und wenn man loslässt und sich lange genug der Stille überlässt, passieren manchmal Dinge, die man nie erwartet oder erhofft hätte.
Ich bin sicher: Stille ist lebensnotwendig. Nicht nur für die leisen Menschen.
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Lieber Armin Koenig,
herzlichen Dank für diesen Text, der ein neues, interessantes Licht auf das Thema „Rückzug“ wirft. Spontan habe ich mich gefragt, ob Sie wirklich „laut“ sind: Denn extrovertierte Menschen (wie z.B. mein Mann) ziehen ihre Energie aus dem Austausch mit anderen.
„leise“ bedeutet umgekehrt nicht „lieber allein“: Es gibt auch die sogenannten „sozial empfänglichen“ introvertierten Menschen, die oft ihren Beruf mitten unter Menschen haben. Gerade diese sollten auf die Ruheoasen achten: Denn dort ist ihre Energiequelle.
Fazit: Ob Intro oder Extro entscheidet sich an dem Ort, an dem wir unsere Energie wieder aufladen.
Herzliche Grüße und nochmals merci
Ihre Sylvia Löhken
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